'Dass wir Leben retten, rechtfertigt keine Klimasünde'

Britta Verlinden - Sonntag, 1.8.2021
Bäume in einer kargen Landschaft formen ein grünes Kreuz.

Wie wir im ärztlichen Alltag Ressourcen sparen können und was sie als Klimamanagerin ihrer Klinik tut, erklärt uns die Anästhesistin und Intensivmedizinerin Dr. med. Anne Hübner. 

AMBOSS: Warum engagieren Sie sich für Klimaschutz? 

Dr. med. Anne Hübner: Mich stört schon lange, was wir in der Klinik für einen Raubbau an der Natur betreiben. Ich habe vor 23 Jahren als Krankenschwester angefangen. Damals haben wir die Sachen noch gesäubert, sterilisiert und wiederverwendet. Ich habe nachts gewaschene Binden aufgerollt. Die gingen wieder in den Schrank! Das können sich viele heute gar nicht vorstellen; so selbstverständlich ist Einweg geworden. Aber das kann nicht so weitergehen. Schon längst gilt nicht mehr: “Wenn wir jetzt nicht…, dann könnte in zehn Jahren…”  – wir sind mitten drin! Wir sehen ja die Hitzepatienten, die mit Niereninsuffizienz bei uns auf der Intensivstation landen, weil sie die 35 °C einfach nicht vertragen.

AMBOSS: Wie sind Sie Klimamanagerin an Ihrem Krankenhaus geworden?

Hübner: Das war eher Zufall. Vor knapp zwei Jahren habe ich ein Interview mit den Gründungsmitgliedern der KLUG-Initiative gelesen, in dem auch von KLIK Green die Rede war. In einer Schnellschuss-Aktion hab ich unserem Geschäftsführer gemailt, ob wir da nicht mitmachen wollen. Völlig überraschend schrieb er sofort zurück: “Vielen Dank für Ihr Engagement, machen Sie mal.” 

AMBOSS: Und dann haben Sie sich um einen Platz bei KLIK Green beworben, das mit öffentlicher Förderung Krankenhäusern hilft, ihre Emissionen zu senken?

Hübner: Das war im Dezember 2019, und die nächsten drei Monate ging es dann erst mal um eine Bestandsaufnahme: Wo steht die Klinik? Da gibt es einen zehnseitigen Fragebogen, der alles Mögliche erfasst: Strom, Wasser, Fuhrpark, Lebensmittel, Abfall. Dabei hat mir zum Glück die Assistenz der Geschäftsführung geholfen. Und im März 2020 haben wir die Zusage bekommen.

AMBOSS: Als Corona so richtig Fahrt aufnahm…

Hübner: Tatsächlich habe ich gerade noch die Schulung zur Klimamanagerin machen können. Überhaupt hatte ich oft einfach Glück. Einmal bin ich zufällig dem Leiter unserer Technik über den Weg gelaufen, als ich gerade einen Katalog möglicher Maßnahmen erstellt hatte. Ich hab’ ihm den einfach in die Hand gedrückt und um einen Termin gebeten, denn die wichtigsten Leute sind die in der Technik! Bei unserem Termin zwei Wochen später hatte er den Katalog nicht nur gelesen, sondern sogar schon Kostenvoranschläge eingeholt, um von Leuchtstoffröhren auf LEDs umzustellen, Präsenzmelder einzubauen und so weiter. Aber es läuft natürlich nicht immer so gut.

AMBOSS: Was ist weniger gut gelaufen?

Hübner: Anfangs war ich total verbissen: “So, als Nächstes ist die Mülltrennung dran.” Doch dann habe ich gemerkt, dass viele der dafür benötigten Leute kein Deutsch sprechen oder nicht lesen können. Dazu kam Corona: Plötzlich hieß es, wir können überhaupt nichts trennen, weil alles potenziell kontaminiert ist. So musste ich irgendwann einsehen: Entweder schmeiße ich die ganze Sache hin, weil mich alles so nervt, oder ich wende mich jetzt anderen Themen zu. 

AMBOSS: Welche waren das?

Hübner: Relativ früh habe ich meinem Chef erklärt, dass eine sechsstündige Narkose mit High-Flow-Desfluran den Emissionen einer Autofahrt von Hamburg nach Kapstadt entspricht – das sind 32.000 Kilometer. Daraufhin haben wir dieses Narkosegas aus der Bestellung rausgenommen. Und dann kann man ausrechnen, wie viele Flaschen weniger wir gekauft und wie viele CO2-Äquivalente wir dadurch eingespart haben. Das macht in unserem Fall letztendlich der Projektpartner.

AMBOSS: KLIK Green hat mit 250 teilnehmenden Kliniken inzwischen keine freien Plätze mehr. Was würden Sie Kolleginnen und Kollegen raten, die sich auf eigene Faust engagieren möchten?

Hübner: Das geht definitiv auch unabhängig von diesem Projekt! Das ist wie Abi an der Abendschule – geht auch, ist halt nur nicht im Klassenverband. Tatsächlich kommen viele Leute auf mich zu und sagen: “So etwas würde ich auch gerne machen.” Es hält euch keiner davon ab! Vielleicht sollte ich auch mal dazu sagen: Ich mache das ehrenamtlich. 

AMBOSS: Nicht in Ihrer Arbeitszeit?

Hübner: Ich bin Anästhesistin und Intensivmedizinerin und mache das in meiner Freizeit. Nach einem Nachtdienst stelle ich mir einen Wecker und setze mich an den Schreibtisch, bis meine Kinder aus der Schule kommen. Aber das ist es mir wert. Vielleicht würde ich sonst in der Fußgängerzone stehen und Zettel verteilen. An der Klinik kann ich wirklich was bewegen.

AMBOSS: Was können denn vielleicht auch andere in ihren Kliniken oder Praxen bewegen?

Hübner: Wer etwas machen möchte, kann zum Beispiel mit einem Aushang oder einem virtuellen Aufruf anfangen und ein Green Team gründen. Die meisten Krankenhäuser haben ja einen Newsletter, da kann man einfach mal reinschreiben: “Der Gesundheitssektor ist für 4–5% der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich. Da ist Luft nach oben und wir können mit kleinen Maßnahmen viel erreichen. Wer hat Lust mitzumachen?” 

AMBOSS: Man muss also nicht gleich eine Solaranlage auf dem Klinikdach fordern.

Hübner: Nein. Viele werden nicht aktiv, weil sie glauben, dass sie eh nichts erreichen können, weil alles teuer ist und alle Entscheidungen bei anderen liegen. Auch mein Mann hat mich belächelt, als ich anfing: “Du glaubst doch nicht, dass irgendwer dafür auch nur einen Cent lockermacht. Zumal die Kliniken in der Pandemie echt Besseres zu tun haben...” Und tatsächlich wusste ich ja auch, dass ich kein Budget habe. Das werde ich übrigens oft gefragt: “Wie viel Geld kriegt ihr von KLIK Green?” Gar keins! Ich kriege nur das Know-how und das ist auch öffentlich zugänglich

AMBOSS: Wenn unsere Leser:innen in ihren Kliniken jetzt vielleicht ein Green Team gründen möchten, was können sie tun?

Hübner: Man könnte starten mit einer Pop-up-Aktion im Foyer und alle Mitarbeitenden befragen: “Was stört euch?” Wenn man dann vier Wochen lang sammelt, erfährt man vielleicht, dass die eine immer mit dem Auto kommt, weil es keine überdachten Fahrradstellplätze gibt. Dem anderen schmeckt das Essen nicht und er würde sich mehr vegetarische Optionen wünschen. Das kann man auswerten und – zum Beispiel wieder über den Newsletter – Feedback dazu geben. So fühlen sich alle ernst genommen und zum Mitmachen motiviert. Wir haben beispielsweise jetzt biologisch-dynamisches Essen bei uns. Wenn wir das auf alle Küchen in allen Häusern unserer Klinikkette ausweiten, würde das so viele CO2-Äquivalente einsparen wie 280.000 gepflanzte Bäume! So etwas lässt sich übrigens mit Soil & More ausrechnen.

AMBOSS: So eine Umstellung von Einkauf und Küche klingt aber nun doch nach einer großen Investition. Wie haben Sie die Klinikleitung davon überzeugt?

Hübner: Mein Argument ist immer die Mitarbeitergewinnung. Das ist ja zur Zeit das größte Problem der Kliniken. Ich hatte schon Nachtdienste auf der Intensivstation, in denen ich nur eine Person kannte – alle anderen kamen von Zeitarbeitsfirmen. Mittlerweile hat fast jedes Haus eine eigene Abteilung für Personal-Rekrutierung und denen sage ich: Wen wir jetzt anwerben wollen, das ist die Generation Fridays for Future. Die fragen nicht mehr nur: “Was verdiene ich da?” oder “Was sieht gut aus in meinem Lebenslauf?” Die achten auf Work-Life-Balance und ob das Krankenhaus den eigenen, privaten Überzeugungen entspricht. Und wer aus der Kliniklandschaft herausstechen will, der sollte sich das Thema Nachhaltigkeit aufs Portfolio schreiben, zumal das über kurz oder lang sowieso alle müssen. Der CO2-Preis wird ja kommen...

AMBOSS: ...und auch von den Kliniken bezahlt werden müssen.

Hübner: Man sagt grob, ein Krankenhausbett entspricht einer Tonne CO2 pro Jahr – das ist der Energiebedarf eines Doppelhauses. Im Moment zahlt das der Staat. Wenn das umgelegt wird, sollte ein Krankenhaus froh um jede Tonne CO2 sein, die es eingespart bekommt, egal wie hoch der CO2-Preis letztendlich ausfällt. Bald wird es dafür Beraterfirmen geben, die für viel Geld irgendwelche Pläne erstellen. Als Klimamanagerin mache ich das heute schon – umsonst.

AMBOSS: Was gehört alles dazu?

Hübner: Als Erstes hab ich die Leute informiert: Beim Verlassen eines Raumes das Licht ausmachen, den Computer runterfahren, die Heizung abdrehen, den Wasserhahn auf “kalt” stellen... Mit solchen Kleinigkeiten lassen sich schon bis zu 8% der Emissionen einsparen. Am meisten bringt wohl, diese Zusammenhänge Face-to-Face zu erklären, aber auch ein kleiner Aufkleber tut’s: “Wir wollen gemeinsam umweltfreundlich werden. Licht, Heizung, Computer – alles aus? Dann schönen Feierabend!” Den kann man von innen an die Arztzimmertür kleben. 

AMBOSS: Solche Aufkleber haben sich ja auch in der Hotelbranche zum Wassersparen bewährt. Was sind weitere, klinikspezifische Ideen?

Hübner: Im OP: Müssen wir, wenn die Hautnaht schon angefangen hat, wirklich noch einmal eine große Flasche Propofol aufziehen? Immer nehmen wir gleich die 50er-Flasche, dabei gibt es ja auch eine 20er. Das ist eine kurze Frage übers Tuch: “Wie lange braucht ihr noch?” Ein Viertel aller aufgezogenen Medikamente im OP werden verworfen! Das sind natürlich auch Notfallmedikamente: Wir haben für jeden Patienten ein Tablett mit Atropin und Noradrenalin, falls der irgendwie stehen bleibt. Das passiert fast nie, aber für alle ziehen wir das auf und schmeißen es dann weg. Das könnte man in der Apotheke auch anders bestellen, zum Beispiel noch in Folie eingeschweißt. Oder diese Elektrokauter, die werden immer hingelegt, kommen aber nur in einem Drittel der Operationen zum Einsatz. Die landen dann – zu zwei Dritteln ungenutzt – im Müll! Und mal grundsätzlich, das ist gesunder Menschenverstand: Wenn eine Operation nur fünf Minuten dauert, muss ich keine 1.000 Milliliter Ringerlösung nehmen. Die Patientin würde in der Zeit ja auch keinen Liter Wasser trinken. Einfach mal die Standards hinterfragen. Mein Chef sagte immer: “Wenn ich abends ein kleines Bier trinken möchte, mache ich mir ja auch kein Fass auf.”

AMBOSS: Aber, mal naiv gefragt, was hat das eigentlich mit dem Klimawandel zu tun?

Hübner: Es geht grundsätzlich darum, bewusster mit unseren Ressourcen umzugehen. Die ungenutzten Propofolspritzen landen im Müll, der im OP nicht getrennt wird. Das heißt, sie werden verbrannt. Propofol wird als Wirkstoff aber erst ab 800 °C deaktiviert. Solche Temperaturen erreichen die meisten Müllverbrennungsanlagen überhaupt nicht. Deshalb lässt sich Propofol mittlerweile im Grundwasser nachweisen. Davon abgesehen sind das ja jedes Mal eine große Perfusorspritze und eine Leitung. Wenn jeder Anästhesist und jede Anästhesistin jeden Tag nur eine Spritze einsparen würde, wären wir schon bei ein paar Tausend Spritzen weniger pro Tag. Das Ziel ist, dass die Leute einfach ressourcenschonender denken: nicht alles aufziehen, nicht alles aufreißen. Wie oft kommt ein Operateur, komplett steril mit Kittel und zwei Lagen steriler Handschuhe, und sagt: “Ach, der Patient ist ja noch gar nicht abgewaschen, da gehe ich noch mal telefonieren.” Dann zieht er sich wieder komplett aus und schmeißt diese Sachen, die vorher auch dreimal eingeschweißt waren, in den Müll. Da ist so eine große Tonne schon halbvoll. Nach fünf Minuten kommt er wieder und will das alles noch mal haben. Darüber kann man aufklären, darauf spreche ich die Leute im OP auch an – auch wenn man sich damit nicht nur Freunde macht. Am besten trommelt man fünf, sechs Leute zusammen, denen es auch auf den Sender geht, wie viel in Krankenhäusern verschwendet wird. Oder wie wir unter dem Deckmäntelchen von Sterilität und “Wir retten hier Leben” immer so tun, als dürften wir uns alles erlauben. Dass wir Leben retten, rechtfertigt keine Klimasünde! 

AMBOSS: Was muss im Gesundheitssektor Ihrer Meinung nach passieren, damit wir das Ziel der Klimaneutralität, etwa bis 2035, tatsächlich erreichen?

Hübner: Jeder Krankenhauskonzern muss sich eigentlich dieses Jahr noch äußern: Was tun wir für den Klimaschutz? Welches CO2-Budget setzen wir uns? Und dann konkret: Wie halten wir das ein oder unterbieten es bestenfalls? Viele machen das ja schon. Die anderen werden irgendwann unter Zugzwang geraten. Denn der Letzte, der sich dazu äußert – also, für den wird’s peinlich.

 

Dr. med. Anne Hübner arbeitet als Fachärztin für Anästhesie und Intensivmedizin in Hamburg. Sie ist Klimamanagerin ihrer Klinik und Nachhaltigkeitsbotschafterin bei ZUKE Green, dem Zukunftsnetzwerk für Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen (ZUKE steht dabei für “Zukunft Krankenhaus-Einkauf”).

 

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